Das Massaker von Katyn

Katyn ist Wäldchen in der Nähe vom russischen Smolensk, in dem knapp über 4.400 polnische Offiziere und Fähnriche im 2. Weltkrieg ermordet wurden. Das war nur eine der Maßnahmen Stalins, die polnische Führungsschicht auszurotten. Insgesamt ließ er durch das NKWD rund 15.000 polnische Kriegsgefangene in Massenexekutionen ermorden.

Wer für das Massaker von Katyn verantwortlich war, das war für die Öffentlichkeit lange Zeit schwer zu durchschauen. Die NS-Propaganda nutzte das Verbrechen für eigene Zwecke. Die Sowjetunion leugnete Beteiligung.

Am 1. September 1939 hatte die deutsche Wehrmacht Polen überfallen. Das Land war bereits zuvor im Hitler-Stalin-Pakt zwischen den beiden Großmächten aufgeteilt worden. Und wenige Tage später befand sich das Land dann tatsächlich in einem Zwei-Fronten-Krieg.

Das unheilvolle Bündnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion zerbricht im Sommer 1941. Die Sowjetunion verbündet sich zu diesem Zeitpunkt mit den westlichen Alliierten, die Achse gegen den Faschismus tritt an.

Doch zu dem Zeitpunkt der Erschießungen in Katyn ist von dieser neuen Konstellation noch nichts zu ahnen. Polnische Kriegsgefangene sind der Besatzung durch die Deutschen und die Russen völlig ausgeliefert. Auf Beschluss der sowjetischen Besatzer hin werden kriegserfahrene Offiziere am 19. September 1939 durch den Befehl 0308 in Sonderlager deportiert. Am 5. März 1940 übermittelte NKWD-Scherge Berija dann einen Beschlussvorschlag an Stalin, welcher noch am selben Abend dem Zentralkomitee vorgelegt wurde. Im abschließenden Beschluss heißt es:

Die Verfahren der 14.700 in den Lagern für Kriegesgefangene befindlichen ehemaligen polnischen Offiziere (…) sind in außerordentlichen Beratungen und unter Anwendung der Höchststrafe gegen sie – Tod durch Erschießen – abzuwickeln. Die Verfahren sind durchzuführen, ohne die Arretierten vorzuladen und ohne ihnen die Anklage mitzuteilen.

Diese Aktion wurde unter größter Geheimhaltung durchgeführt. Doch die Angehörigen der Opfer waren irritiert und konnten, auch mit Unterstützung von internationalen Organisationen wie dem Roten Kreuz, großangelegte Suchaktionen starten. Eine offizielle Anfrage an die Regierung der Sowjetunion nach dem Verbleib der Vermissten beantwortete man mit Lügen: Angeblich wären alle polnischen Offiziere freigelassen worden. Der polnische Botschafter sprach bei Stalin persönlich vor, der in dieser Unterredung beim NKWD anrief und erneut die Lüge wiederholte: Alle Gefangenen seien freigelassen worden. Bis Februar 1943 gab es keine weiteren Anhaltspunkte zum Verbleib der Gefangenen von Katyn. Die Alliierten, inzwischen in Allianz mit der Sowjetunion, hatten schon bemerkt, wie wenig kooperativ sich die Sowjetunion in dieser Sache verhielt. Churchill und Roosevelt kannten die Wahrheit bereits.

Derweil waren die westlichen und nordwestlichen Teilen von Polen unter deutscher Besatzung. Das Generalgouvernement unter Hans Frank führte zahllose Mordaktionen gegen polnische Juden und die polnische Oberschicht durch. Die Vernichtung Polens als Kulturnation war offenes Ziel der Deutschen.

Die Entdeckung des Massengrabs

Das Deutsche Nachrichtenregiment 537 der Heeresgruppe Mitte meldete schließlich, dass die deutsche Feldpolizei eine Leichenansammlung im Wald von Katyn gefunden hatte. Bald wurde auch festgestellt, dass die meisten Ermordeten durch einen Genickschuss umkamen, jedes fünfte Opfer war gefesselt.

Goebbels erkannte die Gelegenheit, durch dieses Massaker einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben:

Katyn ist ein Glücksfall, von dem wir einige Wochen leben können.

Der Fund des Massengrabs konnte propagandistisch vielfältig ausgenutzt werden: Um im besetzten Polen gegen die Sowjetunion Stimmung zu machen, um gemeinsamen Widerstand polnischer und sowjetischer Partisanen gegen die deutschen Besatzer zu verhindern oder zu erschweren, um die Furcht der Deutschen vor den Russen zu schüren und sie so nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad für den „totalen Krieg“ zu gewinnen, um vom Aufstand im Warschauer Ghetto (Beginn: 19. April 1943) abzulenken und eigene Massenmorde an Juden zu rechtfertigen, um das Massaker als Ausfluss „jüdischer Bestialität“ zu brandmarken, sowie um die Kriegsteilnahme von verbündeten Staaten Osteuropas zu fördern.

Goebbels startete also seinen Maßnahmenkatalog und befahl die Verteilung von über 20 Millionen Flugblättern zu dem Massengrab im Generalgouvernement. Zudem wurde eine Meldung über die Entdeckung des Massengrabs über Transocean distribuiert. Das Kalkül hier: Die auf englisch verfassten Meldung sollte internationale Berichterstatung erzeugen, noch bevor eine deutsche Mitteilung erschien. Durch Zitate aus der internationalen Presse erhoffte man sich nämlich mehr Glaubwürdigkeit, jedoch misslang der Versuch, die ausländischen Journalisten zu überzeugen zu diesem Zeitpunkt noch. Das war am 11. April 1943. Zwei Tage später wird die Meldung dann im deutschen Rundfunk verbreitet.

Weiterhin läuft Goebbels Propagandamaschine. Er lässt ausländische Journalisten nach Katyn einladen und vermittelt Interviews mit Gerichtsmedizinern. Viele zunächst skeptische Journalisten ließen sich schließlich überzeugen, dass keine Goebbelsche Propaganda-Aktion stattfand, sondern die russische Verantwortung für das Massaker belegbar sei.

Derweil kam es auch zu Reaktionen von sowjetische Nachrichtenagenturen – diese warfen den Deutschen vor, dass diese die sowjetische Tatbeteiligung erfunden hätten. Die Opfer waren immerhin mit deutscher Munition ermordet worden, noch dazu mit Munition, die auch die Wehrmacht verwendete. Goebbels ließ nicht zu, dass die deutsche Presse über dieses Element berichtete, obwohl die Herkunft der deutschen Munition geklärt werden konnte – Waffenexport der Deutschen.

Expertenkommissionen zur Aufklärung des Falles

Die deutsche Regierung lud schließlich eine unabhängige Expertenkommission ein, um den Fall aufzuklären. Drei Abschlussberichte erschienen, die übereinstimmend berichten, dass die Menschen etwa im Frühjahr 1940 ermordet wurden. Auch die sowjetische Regierung setzte eine Expertenkommision ein, die Burdenko-Kommission. Laut Burdenko habe er auf persönlichen Wunsch von Stalin hin die Ereignisse fälschen müssen. Er verlegte die Ermordung der Menschen auf 1941 und frisierte die Beweise entsprechend. Um 1943 war die sowjetische Deutung verbreiteter und anerkannte als jene der Deutschen.

Selbst der US-Chefankläger Robert Jackson im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess war sich unschlüssig:

I watched as an interested spectator the battle between the Russians and the Germans over this subject. I came to the conclusion that both had the opportunity, both had the motive, and both had the barbarism to have committed the act; and as to which one did it, the evidence was inconclusive.

Bei den Kriegsverbrecherprozessen war das Massaker von Katyn zwar als Anklagepunkt aufgezählt, dies ließ man aber nach zweitägigen Verhandlungen hierzu fallen. Die Siegermächte vereinbaren, dass jede Seite eine Liste mit Themen vorlegen durfte, die nicht Gegenstand einer Gerichtsverhandlung sein sollten. Katyn listete die Moskauer Regierung zwar nicht auf. Das US-Innenminsterium jedoch trug an den Richter Jackson heran, die Katyn-Sache möglichst klein zu halten. Denn Moskau brachte die Ergebnisse der Burdenko-Kommission als „unumstößliches Beweismaterial“ in die Verhandlungen – da derartige Beweismittel nach einer Vereinbarung der Siegermächte als Belege für die Verhandlungen zugelassen werden sollten, um nicht alles erneut prüfen zu müssen.