Der Strom der Ereignisse ist nicht gleichmäßig

Michael Wildts „Zerborstene Zeit“ ist keine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte von 1918 bis 1945. Wer sich systematisch informieren möchte, sollte auf andere Monografien zurückgreifen.* Wildt möchte „nicht den großen Bogen spannen“, sondern „Geschichten erzählen, die Dissonanzen sichtbar machen.“ Das gelingt ihm durch seinen Ansatz, vielfältige und teilweise eher unbekannte und abseitigere Zeitzeugendokumente auszuwerten – beispielsweise das ausführliche Tagebuch einer Hamburger Lehrerin, die trotz ihrer Heirat mit einem Juden durchaus begeistert vom Nationalsozialismus gewesen war, vom jüdischen Philologen Victor Klemperer, vom katholischen Gastwirt Matthias Joseph Mehs aus einer Kleinstadt ander Eifel, und vielen anderen.

Wildt vermittelt die Eindrücke und Empfindungen derjenigen, die diese Zeit selbst erlebt haben. Ihre Erlebnisse waren weder zielführend noch zwangsläufig – anders als es die Geschichtsschreibung, die diese Relikte der Vergangenheit dann einmal auswertet, später suggerieren wird.** Genau vermeidet Wildt durch seinen Ansatz, in dem der Strom der Ereignisse nicht als gleichmäßiger Fortgang geschildert wird, sondern voller Risse, Verwerfungen, Abzweigungen und Diskontinuitäten, stets mit dem „Willen zum Fragment“.

Inhaltlich setzt der Zeithistoriker vielfältige Schwerpunkte: Geht es zum Auftakt noch eher klassisch zu, wenn die Ausrufung der Republik im Spannungsfeld mit den Kriegsentwicklungen und den politischen Extremisten geschildert wird, so hält das Buch bereits bei den Ausführungen zur Novemberrevolution in München regionale Abwechslung bereit und kann anschließend die wichtigen Entwicklungen vor 1933 anhand thematischer Schwerpunkte wie der Konferenz von Locarno, dem Konzept der Volksgemeinschaft, Alltagskultur wie Kino sowie der Übergang in den ökonomischen Zusammenbruch und die Wahlerfolge der Nationalsozialisten nachzeichnen. Ausführlich befasst sich Wildt mit dem Leben von People of Color in diesen Jahren und widmet dem Aspekt ein ganzes von insgesamt 12 Kapiteln.

Neu dargestellt werden auch die außenpolitischen Zusammenhänge bezüglich des italienischen Kriegs in Äthiopien, zum Bürgerkrieg in Spanien, die – wie viele weitere dargestellten Etappen und Episoden – den Weg zum 2. Weltkrieg, zum Vernichtungskrieg und Holocaust bereiten: Der Anschluss Österreichs, die Pogrome, die immer weiter zunehmende Menschenverachtung der Nationalsozialisten – bis 1945 die Welt in Trümmern liegt.

* Wehler, Winkler, Herbert, Thamer und andere. Um hier noch eine Frau zu nennen: Ursula Büttner hat mit „Die überforderte Republik“ ein Standardwerk zur Weimarer Republik vorgelegt.

**Eine modische Erscheinung im Verlagswesen sind ja die „Jahreszahl“-Monographien, die unserem menschlichen Bedürfnis nach einem fortschreitenden, eindeutigem Geschichtsfortgang entgegenkommen und durchaus interessant Geschichte schildern. Wildts Darstellung setzt diesen einen willkommenen Standpunkt entgegen.

Michael Wildt: Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918-1945. München 2022.