Das Eichmann-Protokoll

Hannah Arendts Diktum von der „Banalität des Bösen“ war lange Zeit vorherrschendes Paradigma in der öffentlichen Wahrnehmung der NS-Täter. Die Tonbandaufzeichnungen, die bei der Vernahme von Adolf Eichmann entstanden, geben jedoch einen differenzierteren Einblick in die Persönlichkeitsstruktur eines der Bürokraten des Massenmords: nicht das banal Böse tritt hier hervor, sondern eine Verkettung von mehreren Persönlichkeitsmerkmalen, die in ihrem Zusammenspiel alles andere als banale Effekte haben: unhinterfragter Gehorsam, skrupelloses Machtstreben, auffällige Empfindungslosigkeit, all das hinter einer Fassade der Bürokratie.  Ob diese Merkmale pathologisch oder normal sind, außergewöhnlich oder banal, darüber kann jedenfalls eine verkürzte Wahrnehmung im Sinne der arendt’schen Kategorisierung der Bösartigkeit keine Auskunft geben.

Denn ist es banal, dass Eichmann in einem ganzen Buch bei der Lektüre immer wieder wie manisch den Namen eines seiner Meinung nach am Nationalsozialismus Verrat ausübenden Funktionärs durchstrich und durch verschiedene Beleidigungen ersetzte? Ist es banal, dass er eine Massenerschießung betrachtet, ohne sich „irgendwelche Gedanken“ zu machen? Ist es banal, dass seine Ausflüchte bezüglich der Verantwortlichkeit für Massendeportationen sich ständig auf einen Befehlsnotstand berufen, obgleich Eichmann in seiner Position durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, bestimmte Dokumente nicht mit seiner Unterschrift zu versehen? Ist es banal, dass Eichmann laut seinem Vernehmer Anver Less „kein Gefühl hatte für das Ungeheuerliche seiner Taten“, dass er „nicht die geringste Spur von Reue“ empfand?

Nein, Herr Hauptmann

Unter anderen historischen Umständen hätte Eichmann vielleicht nicht die Funktionen eines SS-Obersturmbannführers übernommen, wäre gewissenhafter Sachbearbeiter und treuer Familienvater geblieben. Immerhin war er nicht sadistisch veranlagt, nahm selbst keine Waffe in die Hand – aber er war beflissen beteiligt an der „Endlösung“, was im Verhör Schritt für Schritt bewiesen wird. Sein Vernehmer erkennt bald, was es bedeutet, wenn Eichmann Vorwürfe mit „Nein, Herr Hauptmann“ abstreitet, und lässt nach weiteren Dokumenten recherchieren, um zu beweisen, welche Verantwortung für den Massenmord Eichmann hatte.

Avner Less, der damalige Hauptmann der israelischen Polizei, der Eichmann insgesamt 275 Stunden lang verhörte, schildert im Nachwort seine Gedanken zu den Tonbandprotokollen. Da er selbst in Deutschland gelebt hatte und demzufolge auch auf deutsch mit Eichmann kommunizieren konnte und die deutschen Zustände seit 1933 aus eigener Erfahrung kannte, erwies er sich als geeigneter Vernehmer von Eichmann. Als er ihn am 29. Mai 1960 zum ersten Mal sah, war er enttäuscht von dem „Häftling in Khakihose“; er hatte nicht erwartet, dass dieser grausame Naziverbrecher so durchschnittlich aussah. Sein eigener Vater war 1943 im KZ Theresienstadt ermordet worden, was er Eichmann auf dessen Nachfrage auch erzählt – „wie entsetzlich“, ist Eichmanns bestürzte Reaktion. Less wiederum ist erschüttert über seine „gräßlichen Schilderungen“, seine „plumpen Lügen“, seine „Anbiederungsversuche“, auch über sein „grausiges Deutsch“ – sogar in seinen verschachtelten Beamtensätzen spiegelt sich sein bürokratischer Charakter wieder.

Inszenierung als unwichtiges Rädchen in der NS-Tötungsmaschinerie

Als ihn der Nazijäger Simon Wiesenthal in Argentinien aufgespürt hatte und in ein Auto gezerrt hatte, antwortete er auf dessen Frage, wie er heiße, mit seinem Klarnamen. Eichmann erklärte sich zu den Verhören bereit, gab ausführliche Auskunft, wohl auch um sich selbst als unwichtiges Rädchen innerhalb der NS-Tötungsmaschinerie zu inszenieren, sein Handeln zu rechtfertigen und nur aufgrund von Beihilfe zum Mord verurteilt zu werden. Dafür war seine Schuld jedoch zu groß: selbst wenn es sich nur um die Organisation der Tötung gekümmert hatte, mit dieser Arbeit hatte er sich zu tief in die Untaten des NS-Regimes verstrickt, und bereitwillig den Tod von Millionen in die Wege geleitet. Aufgrund der intensiven Vernehmung (bei der 3564 Seiten Protokoll entstanden) und der genauen Untersuchung der hinterlassenen Dokumente aus der Nazizeit konnte seine Schuld hinreichend bewiesen werden.

Am 31. Mai 1962 wurde Adolf Eichmann gehenkt und seine Asche im Meer verstreut. Die Tonbanddokumente bieten eine Studie über seinen auffällig drögen Charakter, dem es dennoch an bösartigem Potential keineswegs mangelt. Ergänzt wird das Taschenbuch mit Faksimiles von Dokumenten, die bei seiner Verurteilung eine Schlüsselrolle spielten. Das Buch ist somit eine ausgezeichnete Quelle für die Befassung mit NS-Tätern.

Jochen von Lang (Hrsg.): Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre. Propyläen Taschenbuch, erschienen im Ullstein Taschenbuchverlag. 2. Auflage 2001.