Berichterstattung zum Auschwitz-Prozess: Vermeidende Aufarbeitung

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Der Auschwitz-Prozess gilt als „initiales Moment der (deutschsprachigen) Rezeption von Auschwitz“. Tatsächlich generierte die Menge an zeitgenössischer Berichterstattung zum Thema ein großes Reservoir von Wissensbeständen über Auschwitz und den Auschwitz-Prozess. Trotzdem deuten mehrere besondere Verhaltensweisen von Publikum und Journalisten darauf hin, dass bei der Verarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte verunsichert und überfordert war.

Die Berichterstattung zum Prozess in den Jahren 1963 bis 1965 war durchaus ausführlich – so lieferten die Tageszeitungen wie die Frankfurter Rundschau oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine tägliche Berichterstattung über das Geschehen. Während des Prozesses erschienen laut einer Studie von Jürgen Wilke 933 Artikel zum Auschwitz-Prozess in den untersuchten überregionalen Qualitätszeitungen, also in Welt, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau. Zum Vergleich: Zum Eichmann-Prozess erschienen 787 Artikel, zum Demjanjuk-Prozess nur 111. Zu berücksichtigen ist bei diesem Vergleich allerdings, dass der Auschwitz-Prozess hinsichtlich seiner zeitlichen Länge die beiden Vergleichsprozesse übersteigt. Allerdings verweist das Ausmaß der Berichterstattung, in Quadratzentimetern gemessen, ebenfalls auf ein deutliches Übermaß der  Berichterstattung über den Auschwitz-Prozess, denn mit 200.948 Quadratzentimetern war die Berichterstattung zum Auschwitz-Prozess beinahe doppelt so ausführlich wie jene zum zwei Jahre früher stattfindenden Eichmann-Prozess, zu dem es 128.359 Quadratzentimeter in den bereits erwähnten insgesamt 787 erschienenen Artikeln gab. 

Versteckt im Zeitungsinnenteil

Jedoch wurden Berichte über den Auschwitz-Prozess in der zeitgenössischen Berichterstattung nie als großer Hauptartikel aufgemacht, und auch auf Seite eins gelangte der Auschwitz-Prozess im Vergleich zu anderen Prozessen unterdurchschnittlich selten. Dies verweist darauf, dass die Bearbeitung des Themas nicht unbefangen verlief, dass man mit dem Thema weniger Zeitungen verkaufen wollte – indem auf der Front das Thema angekündigt wurde – sondern dass die entsprechenden Berichte im Innenteil fast versteckt wurden.

Während in ihren Artikeln einerseits die Notwendigkeit der juristischen Verfolgung der NS-Täter als notwendig erachtetet wurde, war die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit noch nicht für eine systematische „Bewältigung“ der Vergangenheit durch eine engmaschige Strafverfolgung der NS-Gewaltverbrechen bereit. Zeitungen wie die BILD – damals mit einer Auflage von vier Millionen die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung – berichteten kaum über den Auschwitz-Prozess und zogen somit die Haltung der Gesellschaft vielleicht mehr als die Qualitätsmedien nach. 

Diese Haltung wurde allerdings von den Berichterstattung oft angemahnt. So wandte sich ein Journalist ganz offensiv gegen die zum Ende des länger als geplanten Prozesses auftretenden Ermüdungserscheinungen beim Publikum und verknüpfte dies auch mit einer Kritik an der sensationsheischenden Presse: „Die Zuhörerbänke haben sich gelichtet, die Spannung hat nachgelassen, die Szene des Tribunals hat sich gewandelt.“ Im Laufe dieses Artikels greift der Redakteur die Kritik an der Länge des Prozesses an, womit er auf eine offenbar in der Bevölkerung verbreitete Überdrüssigkeit dem Prozess gegenüber anspielt. „Auschwitz dauerte rund 1500 Tage. Wie viel zählen da die 165 Tage des Auschwitz-Prozesses?“ Dass die Bevölkerung in erschütternder Weise das Verfahren ignorierte, veranlasste einen Redakteur von der Wochenzeitung Die Zeit zu einem Artikel, in dem er mehrere Bürger zu ihren Kenntnissen zum Auschwitz-Prozess befragte und hierbei feststellt, dass die zufällig ausgewählten und befragten Bürger seiner Studie wenig zum Thema sagen können. Trotz solcher Artikel hatte der Auschwitz-Prozess keine Auswirkungen auf die Meinung der Deutschen, die zum Zeitpunkt des ersten Auschwitz-Prozesses – als diese Frage akut war – mehrheitlich nicht von der Notwendigkeit der Aufhebung der Verjährungsfrist zu den NS-Gewaltverbrechen überzeugt waren. 

Möglicherweise beeinflusste diese Abwehrhaltung der Bevölkerung zum Thema die Journalisten in die genau entgegengesetzte Richtung. Pendas deutet die Haltung der Journalisten zum Prozess wie folgt:

Die Faszination, mit der die Presse den Auschwitz-Prozess verfolgte, führte auch zu den ambivalenten Reaktionen in der Bevölkerung, was wiederum bei den Journalisten das Gefühl verstärkte, sie müssten nun in erster Linie die Rolle als demokratische Wahrheitssucher übernehmen.

Diese Rolle nahmen die Journalisten bereitwillig an, denn es ist bemerkenswert, dass nur in den seltensten Fällen – nämlich nur in 18 Prozent der Artikel – das von einer Nachrichtenagentur bereitgestellte Material zum Auschwitz-Prozess unbearbeitet übernommen wurde. Bei 76 Prozent der Artikel übernahm ein Journalist der jeweiligen Zeitung persönlich die Recherche und verfasste dann die Artikel für die Zeitung. Im Demjanjuk-Prozess lässt sich dagegen ein umgekehrtes Verhältnis feststellen.

Zahlen als Einstieg in das Unbegreifbare

Um in die Kommunikation über den Auschwitz-Prozess einzusteigen, dienten oft Zahlen – vor allem, um die Besonderheit und die Größe des Prozesses zu illustrieren. Symptomatisch für diesen Sachverhalt ist ein Artikel eines unbekannten Autors, der zum Prozessbeginn am 20. Dezember 1963 in der Wochenzeitung Die Zeit erschien. Bereits in der Unterüberschrift reihen sich mehrere Zahlenangaben nebeneinander. Der einzige Kommentar hierzu bezieht sich darauf, dass der „größte KZ-Prozeß“ beginne:„Im Frankfurter Römer begann der größte KZ-Prozeß: 22 Angeklagte, 200 Zeugen, 700 Seiten Anklageschrift“. 

Im weiteren Verlauf finden sich weitere Aneinanderreihungen von durch Zahlen vermittelbaren Sachverhalten, so die Anzahl der Bände von Verfahrensakten, die in die Ermittlungsverfahren involvierte Anzahl von Zeugen, die Dauer der Ermittlungen und ähnliches. Keinerlei Hinweise gibt es hier dagegen auf die Struktur des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz selbst. Die in der Unterüberschrift getroffene Abkürzung des Sachverhalts („KZ-Prozeß“) spricht nicht für die Kenntnis über die Struktur des Lagers. Erstaunlich ist, dass der Journalist extra definiert, was eine Selektion in Auschwitz war. Er stellt das Wort in Anführungszeichen und ergänzt durch ein „also (…) [die] Auswahl der Häftlinge für den Tod in der Gaskammer“. Dass dieses Wissen noch nicht als bekannt vorausgesetzt wurde, offenbart ein zumindest von Seiten des Verfassers angenommenes großes Informationsdefizit auf der Seite der Rezipienten.

In einem anderen Artikel heißt es zum Einstieg nachdrücklich: „Die Zahlen sprechen für sich.“ Die faktischen Zahlenangaben sollen die strukturelle Analyse der Lagerstruktur überflüssig machen, indem sie eine wissenschaftlich-objektive Auseinandersetzung mit dem Thema antizipieren und gleichzeitig in Form der schieren Superlative den gewünschten Aufmerksamkeitswert für das Thema generieren. Diese Form der Zahlenhäufung findet sich auch in zahlreichen Artikeln aus späteren Jahrzehnten. 

Wenige Wochen nach dem Artikel zur Verfahrenseröffnung hat sich die Bezeichnung „Auschwitz-Prozeß“ in der Zeitung etabliert, die Zahlenangaben werden jedoch erneut wiederholt. Dies geschieht wiederum, um die Größenordnung des Prozesses zu illustrieren; dieser wird als „Mammutprozeß“ bezeichnet. Dem Verfasser fällt gleichwohl diese von Zahlen und neutralen Fakten geprägte Berichterstattung auf, und er kritisiert sie auch: „Das Schrecken verschwindet hinter Paragraphen, Verordnungen, Befehlen. Es wird zu einer Sache nüchterner Interpretation.“ Diese zumindest augenscheinlich nüchterne Herangehensweise an den Nationalsozialismus und seine Funktionsmechanismen könnte jedoch durchaus bewusst vorgenommen worden sein und sollte einer Abgrenzung von der affektgeladenen NS-Propaganda dienen. 

Der Schwerpunkt auf den Tätern bleibt bestehen, doch findet sich in einem Artikel des selben Autors, der im Jahr 1964 in der Wochenzeitung Die Zeit erschien, im Unterschied zum oben bereits erwähnten Artikel zur Verfahrenseröffnung und als Zeichen eines Wissenszuwachses in diesem Bereich ein vorsichtiger Hinweis auf die Struktur von Auschwitz: 

Jetzt kommt in diesem Prozeß das furchtbarste Kapitel deutscher Geschichte zur Sprache: die Schreckensjahre der ‚Todesfabrik‘ Auschwitz, wo mehr als zwei Millionen Menschen, Juden, Zigeuner, ‚Lebensunwerte‘, Kriegsgefangene vergast, verbrannt, erschossen, zu Tode geprügelt oder erhängt wurden (…).

Auch die fehlende Empathie für die Opfer – der Verfasser geht davon aus, dass das Publikum diese und ihre schlimmen Erfahrungen bereits vergessen hat – wird an dieser Stelle thematisiert. In Anführungszeichen als zitierte Rede von den Verteidigern der Angeklagten, „redegewandt die einen, stockend die anderen“ erwähnt der Autor des Artikels auch die Begriffe „Befehlsnotstand“ und „Unrechtsbewußtsein“ und schneidet damit offenbar bekannte Diskurse zu den Themen nur knapp an, setzt also bei den Lesern voraus, dass diese über die Begriffe bereits informiert sind und mit ihnen etwas anfangen können. Eine weitere Thematisierung unterlässt er jedoch. Ob dies aus Überdruss geschieht, da diese Bereiche bereits oft diskutiert wurden, oder ob sich der Autor von diesen Konzepten distanzieren will, wird nicht deutlich.

Auch nach dem Prozess besteht zumindest von journalistischer Seite her die Überzeugung, dass das Publikum die dargebotenen Informationen noch nicht zur Kenntnis genommen hat: Gerhard Mauz verweist anlässlich der Ausstrahlung der Serie „Holocaust“ im Jahr 1979 mit mehreren Beispielen darauf, dass die Informationen aus der Serie dem Publikum bereits geläufig sein müssten. „Dies alles und unendlich viel mehr ist aus den NS-Prozessen berichtet worden. Das war zu lesen – doch das ist überlesen worden. Warum?“