Über vier Generationen begleitet Gabriele Tergit die Familie Effinger – eine bürgerliche, gebildete, letztendlich recht normale Familie, deren Irrungen und Wirrungen wir im Roman unter anderem im Berlin der Jahrhundertwende und in Süddeutschland verfolgen können. Dass die Effingers Juden sind, spielt dagegen erst mit dem Erstarken des Nationalsozialismus eine Rolle.
Während die Mann’schen Buddenbrooks den graduellen Niedergang erleben, ist es bei den Effingers eine Aufstiegsgeschichte, die erzählt wird. Die Geschichte fängt den Zeitgeist im kaiserlichen Preußen, zeigt die Zerwürfnisse des 1.Weltkriegs, die wilden Zwanziger in lebendigen Dialogen, wilden Begegnungen und detailvollen Schilderungen. Beginnend im Jahr 1879 spannt Tergit auf fast 900 Seiten den Bogen bis ins Jahr 1948. Den Aufstieg und die Spannung der Geschichte stoppt am Ende nationalsozialistische Regime: Das Buch schließt mit dem Abschiedsbrief des am Ende des Buches 80-Jährigen Paul Effinger – wir lernen ihn als ehrgeizigen Lehrling direkt zum Auftakt des Buches kennen – vor seiner Deportation ins Vernichtungslager. Unverschuldet in den Untergang – anders als die Buddenbrooks.
Überhaupt, die Buddenbrooks. Ist das ein fairer Vergleich? Es gibt Schnittpunkte zwischen den beiden Büchern, das ist offensichtlich, aber in der Kategorie Gesellschaftsromane des 20. Jahrhunderts muss es ja nicht nur den einen Klassiker geben. Sind die Effingers die „feministischen Buddenbrooks“, wie es Axel Brüggemann von der Jüdischen Allgemeinen sagt? Sicherlich sind Effingers aus feministischer Hinsicht spannend, da die weiblichen Hauptfiguren komplex sind, sich Freiheiten erarbeiten, aber auch von den Anforderungen an sie zerrissen werden. Und ganz vielleicht ist das hier sogar noch etwas nuancierter als bei den Frauengestalten bei den Buddenbrooks, die eben aus der Degenerations-Perspektive eines Thomas Manns mit gewisser Voreingenommenheit eingeführt werden.
Dass die deutschen Buchverlage erst 2019 Effingers in der ungekürzten Version veröffentlichte, ist schlichtweg ein Versäumnis. Lag es daran, dass der Roman zu lang ist? Oder dass es um eine jüdische Familie geht? Dass die Autorin als Frau um ihre Anerkennung viel stärker kämpfen musste? Während Thomas Mann sich selbstbewusst der Kürzung von Buddenbrooks verweigerte und sein Verleger Samuel Fischer 1901 das Werk trotzdem in dessen mächtiger Form veröffentlichte, konnte Gabriele Tergit zeitlebens keine ungekürzte Veröffentlichung lancieren.