„Wer sich ein ruhiges Leben wünscht, hätte besser daran getan, nicht im 20. Jahrhundert geboren zu werden“, schrieb Leo Trotzki einmal. Die Unglücklichen, die es sich nicht aussuchen konnten, sind lange zu Zeitzeugen geworden. Walter Laqueur schreibt über sein Leben im 20. Jahrhundert. Das ist faszinierend, denn sein Nimbus der Zeitzeugenschaft lässt längst vergangene Zeiten aufleben. Teilweise überwiegt jedoch ein belehrender Ton, und wo Laqueur die Zukunft vorhersehen möchte, erscheinen seine Einschätzungen weniger gut fundiert.
Von Kristalldetektoren zu Google
Das erste politische Ereignis, an das sich Laqueur erinnert, ist die Parlamentswahl von 1930. In diesem Jahr erreichte die NSDAP hervorragende Wahlergebnisse. Mit sogenannten „Kristalldetektoren“, denn Lautsprecher gab es damals noch nicht, erfolgte die Berichterstattung dazu. Laqueur war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt.
Im weiteren Verlauf des Buches befasst sich Laqueur mit unterschiedlichen politischen Themen, die ihn im Laufe der Jahrzehnte beschäftigt haben – beispielsweise die politische Kultur der Sowjetunion, die Lage im Nahen Osten, oder die unzuverlässigen Verfahren der Bundesnachrichtendienste. Und inzwischen gibt es Google, Amazon und Wikipedia. Laqueur erwähnt und benutzt all diese Webdienste.
Laqueurs Wissen zu Politik und Zeitgeschichte ist beeindruckend, und er ordnet seine Einschätzungen stets in ein kohärentes Narrativ ein. Manchmal scheint Laqueurs apokalyptische Einschätzung zum Ende Europas ein wenig zu pessimistisch: „Macht euch keine allzu großen Hoffnungen für die absehbare Zukunft“, schließt er seine politische Autobiographie ab. Zum anderen erweckt sein pointierter und klarer Duktus bisweilen den Eindruck, die Dinge seien eindeutiger zu bewerten, als sie es sind.
Belehrungen und Überbetonung der Zeitzeugenschaft
Das Buch kommt nicht ohne einen belehrenden Unterton aus. So gibt Laqueur zwar zu, er hätte sich bei seinen politischen Prognosen das ein oder andere Mal geirrt – aber hauptsächlich aus dem Grund, weil er zu weit in die Zukunft geblickt hätte, statt kurzfristige Entwicklungen rechtzeitig zu kontextualisieren.
Kritisch sollte man auch Laqueurs Betonung der Relevanz eigener Zeitzeugenschaft für die Geschichtsschreibung bewerten. Unmittelbare Beteiligung an geschichtlichen Prozessen geht keinesfalls mit genügend Distanz einher, die jeweiligen Parameter zutreffend analysieren zu können. Laqueur trifft hierzu ein anderes Urteil: Seine Rede vom „tiefere[n] Verständnis für eine Epoche, das nur das unmittelbare Erleben (…) vermitteln kann“ zeugt von einem eher antiquierten Geschichtsverständnis, das eine durch historistische Auslegung ein tieferliegendes Narrativ aus den Prozessen und Strukturen erarbeiten will. Da Laqueur den aktuellen theoretischen Entwicklungen der Methoden der Geschichtswissenschaft ohnehin skeptisch gegenüber steht, passt diese Einschätzung zumindest ins Bild.
Qualität der Analyse zum Ende schwächer
Laqueurs Analyse des zukünftigen Europas scheint nicht plausibel. Der Historiker schließt das Buch mit einer dystopischen Voraussicht auf die kommenden Jahre. Europa sei am Ende angelangt; die Begründungen hier erscheinen ungewöhnlich undifferenziert und reproduzieren demographische Klischees.
Während die Deutschen immer mehr Kinder bekommen, was in einer wirtschaftlichen Katastrophe endete, seien die Geburtsraten von Menschen mit Migrationshintergrund ungebrochen hoch. Da diese nicht über den Willen verfügten, sich zu integrieren, sei die europäische Gesellschaft gefährdet. Der Blick in die Vergangenheit gelingt Laqueur besser, als die Vorausschau auf die kommenden Entwicklungen des 21. Jahrhunderts.
Walter Laqueur: Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens. Berlin 2011.