Russisches Exil oder russische Diaspora?

beitragsbild diasporaLebten die Emigranten, die aufgrund politischer Umstände aus Russland bzw. der neu konstituierten Sowjetunion flüchteten, in der Diaspora? Oder wird dieser Begriff lediglich im Zuge der inflationären Verwendung des Begriffs auf diese Gruppe angewandt?

Gemeint sind jene Emigranten, die in den Jahren nach Bürgerkrieg und Oktoberrevolution Russland verließen, und dabei verschiedene europäische Großstädte als neuen Lebenspunkt auswählten. Es waren vor allem die Angehörigen einer kosmopolitischen, wohlhabenden Schicht, die teilweise Anteil an der vormaligen provisorischen Regierung unter Kerenski hatten. In jedem Fall litten sie  aufgrund der bolschewistischen Revolution unter Verfolgung und versuchten deswegen, ihr Land zu verlassen. Auch Angehörige der Kirchen entschieden sich zur Emigration, da ihre Religionsausübung reglementiert wurde.

Berlin als Sehnsuchtsort

Zu dieser Zeit wurde Berlin im Volksmund „die dritte Hauptstadt Europas“ (neben Moskau und St. Petersburg) genannt. Im Jahr 1923 suchten 360.000 Russen in Berlin Asyl auf. Die Stadt war also ein Anziehungspunkt, ein Sehnsuchtsort für die Russen. Das liegt vielleicht daran, dass sie hier auf eine lebhafte russische Community trafen, die Sprache, Tradition, Religion mit ihnen teilte. Nicht nur Berlin war solch ein Sehnsuchtsort, auch Paris oder Prag könnten hier aufgezählt werden, aber auch in Städten der USA gab es Ableger einer russischen Diaspora. Oder sollte man hier lieber von russischen Exilanten sprechen, die gehäuft diese Städte zum neuen Wohnort wählten?

Ich entwerfe im folgenden eine Definition der Diaspora, die sich an Robin Cohens Überlegungen hierzu anlehnt. Die einzelnen Merkmale vergleiche ich mit der Situation der russischen Emigranten, von denen im übrigen viele jüdisch waren; sie lebten ohnehin in der „klassischen“ jüdischen Diaspora. Wo die Verfolgung und der Terror gleichermaßen Juden wie Nicht-Juden traf, ist es schwierig, der einen Gruppe den Status „Diaspora“ anzuerkennen und der anderen nicht, wenn auch berücksichtigt werden muss, dass die Diskriminierung von Juden – sprich der Antisemitismus – als ein strukturelles Problem gelten kann, anders als die Vertreibung von im Wesentlichen willkürlich durch das russische Regime definierten Klassen.

Cohen sieht als charakteristisch für eine Diaspora folgende Merkmale:

Eine traumatische Situation war der Grund für die Flucht vom bisherigen Wohnort. Dieses Trauma traf nicht nur einen einzelnen, sondern eine ganze Gruppe von Menschen. Meiner Ansicht nach ist dieses Merkmal für die russische Emigrationswelle seit dem Bürgerkrieg und der Oktoberrevolution gegeben. Nachdem die Bolschewiki an die Macht gelangt waren, verfolgten sie die vermögende Bevölkerung. Gewalt und Terror waren an der Tagesordnung. Die Flucht verlief nicht selten überstürzt und verzehrte das Vermögen. Somit qualifizieren sich die russischen Emigranten, die an mehr als einem Ort Zuflucht suchten und fanden – was Cohen ebenfalls als charakteristisch für eine Diaspora erachtet – für den Begriff der „victim diaspora“.

Der Zusammenhalt in der Ferne

Auch in der Ferne blieb ein Zusammenhalt bestehen, der auf gemeinsamen Traditionen und kulturellen Praktiken bestand. Für die russischen Emigranten, die nicht jüdisch waren, ist hinsichtlich dieser Funktion die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche zentral. In Berlin beispielsweise gibt es einen russischen Friedhof, der als letzte Ruhestätte für Exilrussen angelegt wurde; auch ein russisch-orthodoxes Gotteshaus ist hier zu finden. Zar Alexander III. ließ Ende des 19. Jahrhunderts vier Tonnen russische Erde nach Berlin transportieren, damit die ausgewanderten Russen in dieser Erde begraben werden konnten. Dies ist ein Beispiel für die Verbindung, die auch die ausgewanderten Russen zu ihrem Heimatland aufrechterhielten. Die Idealisierung Russlands und ein kollektiver Mythos von der Heimat entsteht durch Aktionen dieser Art ebenso. Gleichzeitig korrespondiert die Einrichtung eines eigenen Friedhofs, eines eigenen Gottesdienst mit einem bewusst etablierten Maß an Integration, das nicht auf vollständige Assimilation zielte, sondern eigene Kultur bewahren und pflegen wollte.

Seit 1921 existierte die „ROKA“, die „Russisch Orthodoxe Kirche außer Landes“ – nur eine von mehreren russisch-orthodoxen Kirchengemeinschaften, die explizit darauf ausgerichtet waren, im Ausland zu wirken und religiöse Gemeinde zu etablieren. Im Berlin der 20er Jahre hatten die russischen Emigranten zudem ihren eigenen lebhaften kulturellen Kosmos geschaffen, dutzende Verlage gegründet, eigene Tageszeitungen wurden verlegt, sogar ein russisches Taxiunternehmen gab es damals. Dies spricht für ein kulturelles Bewusstsein, dass die Russen auch fern der Heimat beibehielten.

Ich fasse die Bestrebungen, ins Heimatland zurückzukehren, anders als Cohen, nicht als wesentliches Merkmal einer Diaspora auf. In diesem Punkt unterschieden sich die Vorhaben der geflüchteten Russen ohnehin. Viele sehnten sich nach der Heimat, doch trauten sich die Rückkehr nicht zu. Sie hätten in ihrer ehemaligen Heimat keinen Halt mehr gefunden, da ihr Umfeld – also die bürgerliche Schicht – längst beseitigt war. Zudem verschärften sich die Verfolgungswellen nach Lenins Tod noch. Viele Emigranten konnten dem Exil auch positives abgewinnen, selbst wenn sie sich nach der Heimat sehnten und negative Erfahrungen machen mussten. Für mich ist dies ein wesentliches Merkmal einer Diaspora-Erfahrung. Man denke nur an Vladimir Nabokov, der sich bei der ersten Station seines Exil zwar weitgehend gegen die deutschen Einflüsse verwehrte und ausschließlich auf russisch schrieb, der aber später in den USA seine Schreibsprache änderte und von dort aus weltbekannt wurde. Nach Russland kehrte er nie zurück, und er verspürte offenbar auch kein Bedürfnis danach. Dies ist natürlich nur ein Einzelfall. Die Definition von Diaspora wird erheblich dadurch erschwert, dass man sich nicht mit einer homogenen Gruppe befasst, sondern mit einer äußerst heterogenen.

Idealisierung der alten Heimat?

Dieses Problem findet sich auch bei dem Merkmal der Idealisierung der alten Heimat. Es gab keine einhellige Glorifizierung der Geschichte und der politischen Lage in Russland, überhaupt keine einheitlichen Meinungen hierzu. Um die These zu stützen, zitiere ich im folgenden nur ein Zeugnis des russischen Schriftstellers Lew Lunz, der unter russischen Emigranten in Berlin dreierlei Strömungen ausmacht:

Die russischen Emigranten in Deutschland kann man in drei Gruppen einteilen. Die erste, in Sanatorien am zahlreichsten vertreten, bilden die Geschäftsleute und Börsenmänner. Die schätze ich am meisten. Sie haben längst aufgehört, sich für Russen zu halten. Ihre Kinder verlernten die Muttersprache und plappern deutsch, französisch, polnisch, die Sprache des Volkes, an dessen Börse ihre Eltern spekulieren …
Die zweite Gruppe bilden die Politemigranten, die Vertreter von politischen Parteien, die in Russland längst vergessen sind. Denen ist der Weg nach Russland versperrt, sie wollen zurück, aber sie dürfen nicht. Sie existieren von der Literatur, publizieren in der russischen Periodika. Diese Fossile habe ich übrigens fast gar nicht zu Gesicht bekommen …
Viel amüsanter ist die dritte, die interessanteste Art der Emigranten, die Intellektuellen, die klassischen russischen Intellektuellen. Sie verzehren sich in der Sehnsucht nach ihrer Heimat, sie hassen die Deutschen nicht nur, sie sind ihnen physisch zuwider, und zwar alles Deutsche, von der Sprache bis zur Küche. Sie leben nur in der Erinnerung. Aber sie kehren nicht zurück. Warum? Das wissen sie selber nicht … In Berlin gibt es solche Emigranten wie Sand am Meer.

Es lassen sich gute Gründe finden, auch die russischen Emigranten als Mitglieder einer Diaspora zu bezeichnen. Gerade die integrierende Funktion der russisch-orthodoxen Kirche, die nach der Machtübernahme der Bolschewiki zunehmend im Ausland statt fand, ließ das kulturelle Bewusstsein, das die Emigranten verband, nicht verflüchten. Die zögerliche Integration und der Aufbau eines selbstgestalteten kulturellen Umfeld ist ebenso charakteristisch für eine Diaspora.
Jedoch sehe ich ein grundsätzliches Problem, den Begriff der Diaspora aufzuweichen und immer mehr Gruppen diesen Status zuzuweisen. Cohens Definition ist sehr breit angelegt, so dass viele Flüchtlingsbewegungen sich dort wieder finden können. So wird es generell schwer, einzelne Gruppen darunter zu fassen.

Wer lebt in einer Diaspora?

Ich würde dafür plädieren, das Diaspora-Konzept vornehmlich für die jüdische Bevölkerung zu verwenden. Wird der Begriff in einem anderen Kontext genutzt, halte ich es für sinnvoll, ihn durch ein vorangestellte Kategorie zu präzisieren. Desweiteren halte ich es für angemessen, den Diaspora-Begriff vor allem bei jenen Gruppen anzuwenden, die eine strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung erhalten haben. Aus diesem Grund würde ich letztendlich im russischen Fall von einer Form des Exils sprechen, die Elemente der Diaspora fraglos besitzt, welches aber größtenteils vormals privilegierte Bürger Russlands betraf und somit nicht diejenigen zur Flucht zwang, die Erfahrungen des Terrors und der Angst über einen langen Zeitraum machen mussten. Denn diese Erfahrungen blieben auf die Zeit der Oktoberrevolution begrenzt.

Literatur:
Cohen, Robin: Global Diasporas. New York 2008.
Mierau, Fritz: Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film 1918 – 1933. Leipzig 1990.
Stricker, Gerd: Russische orthodoxe Kirchen in der Diaspora. In: Die russische Diaspora in Europa im 20. Jahrhundert. Religiöses und kulturelles Leben. Hrsg. von Adelberg J. M. Davids und Fedor B. Poljakov. Frankfurt am Main 2008. S. 21 – 69.
Nabokov, Vladimir: Sprich, Erinnerung, sprich. Reinbek 1984.

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