Die Tragik der verlorenen Filme

verschollene filmeVon vielen Filmen aus der Frühphase des Kinos sind heute nur noch Fragmente erhalten. Über die Tragik der zerstörten Filmrollen und die gespenstischen Relikte vergangener Kultur

Der Bestand der Bibliothek von Alexandria soll bis zu 500.000 Schriftrollen umfasst haben. Dass – wahrscheinlich während des römischen Bürgerkriegs 47 v. Chr – ein Brand den Großteil dieser wertvollen Dokumente vernichtete, gehört zu den tragischen Episoden in der Geschichte der missglückten Quellenüberlieferungen. Doch nicht nur in der lange vergangenen Antike gingen einzigartige Fragmente einer Kultur unwiederbringlich verloren: Da bis in die 1950er Jahre Filmrollen aus einem stark entzündlichen Material, aus Cellulosenitrat, hergestellt wurden, gilt eine Großteil von Filmen aus dieser Zeit als verloren. Bis zu 90 Prozent aller Filme vor 1929 wird man nie wieder sehen können; an ihren Inhalt und ihre Form erinnert sich heute niemand mehr.

Zum Beispiel „The Great Gatsby“

Von „The Great Gatsby“ beispielsweise, im Jahr 1926 vom US-Regisseur Herbert Brenon initiiert, ist heute nur noch ein Trailer erhalten. Eine Minute lang präsentiert er dem Zuschauer verheißungsvolle Bilder, endet mit der Aussicht auf den „entertainment thrill of your life“, den der Erwerb des Kinotickets zu dieser Vorstellung bereithält.

Die Tragik der vermissten Filme führt zu Gerüchten, dass irgendwo noch eine Kopie das stürmische 20. Jahrhundert überleben konnte: „The Great Gatsby“ sei angeblich noch in einem Moskauer Archiv hinterlegt, doch bislang konnte trotz großer Bemühungen um das Auffinden des Filmes niemand die begehrte Filmrolle aufspüren und die Versäumnisse der Archivierung rückgängig machen.

Der Nachlässigkeit bei der Archivierung ist auch der Verlust von mehreren Filmen mit Lon Chaney zuzuschreiben. Nach dem 2. Weltkrieg sendete man die letzte Kopie von „The Big City“, einer Tod Browning Produktion aus dem Jahr 1928, nach Australien. In den Archiven von MGM ordnete man ihn gewissenhaft zu einer anderen Kollaboration von Chaney und Browning: „London After Midnight.“ Bei einem Brand in den Tresoren von MGM verbrannten dann beide Filme im Jahr 1967.

Der Reiz der verschollenen Filme

Die mysteriösen Überlieferungs- und Erhaltungsgeschichten erhöhen den Reiz der verschollenen Filme. Jene Unterhaltungsfilme, die einmal ein Massenpublikum erreichten und heute spurlos verschwunden sind, rufen beim interessierten Zeitgenossen durch die neckisch hinterlassenen Remineszenzen an ihre Existenz –  gespenstisch anmutende Filmplakaten, wenige Minuten andauernde Szenen, Auflistungen der Besetzung, Kritiken der Presse, sogar Notationen der Filmmusik – tiefes Bedauern hervor. Falls nicht irgendwo, auf obskuren Wegen auf Dachböden, in vergessenen Abteilungen von Bibliotheken, in unsortierten Archiven, die verschollenen Filme zufällig gefunden werden, wird diese Zeugnisse der Filmgeschichte niemand mehr sehen können. Hingerissen sind Cineasten von Entdeckungssensationen: Als man 2008 in Buenos Aires verschollene Partien von Fritz Langs „Metropolis“ fand, nahm man dies zum Anlass, den restaurierten Film in den Kinos zu zeigen. Eine bereits zuvor hergestellte Rekonstruktion des Filmes, welche noch nicht vollständig war, wurde als erster Film überhaupt zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt.

Das Weltkulturerbe schützen

Die Einrichtung von Institutionen, welche Kulturgüter zuverlässig archivieren, ist auch in den heutigen Zeiten der massenweise Speicherung aller möglichen Daten notwendig. Denn die Anfälligkeit der Nitrat-Filme verweist auf die Vergänglichkeit von Kunst und ihrer Speichermedien: Ob in 100 Jahren unsere heutigen Festplatten und Dateiformate noch lesbar sind, das ist fraglich. Auch CDs, in den 1990er Jahren das Speichermedium schlechthin, spielen heute nur noch eine ungeordnete Rolle – hat man doch festgestellt, dass ihre Haltbarkeit mangelhaft und somit die Archivierung von Daten auf CDs nicht sicher ist.